29. Oktober 2025: Interview mit Anne Hoffmann im Luxemburger Wort

Schlaganfall mit 39: Anne Hoffmanns Weg zurück ins Leben

In Luxemburg erleiden durchschnittlich jeden Tag vier Personen einen Schlaganfall. So auch Anne Hoffmann. Der Welt-Schlaganfall-Tag am 29. Oktober gibt Betroffenen eine Stimme.

von Sabrina Backes (dieser Artikel wurde zuerst im „Télécran“ (Ausgabe 44/2025) veröffentlicht.)

Es ist ein gewöhnlicher Oktobertag im Jahr 2020: Anne Hoffmann, 39 Jahre alt, von Beruf Lehrerin und Mutter zweier Kinder, ahnt nicht, dass sich ihr Leben in wenigen Stunden grundlegend verändern wird. Noch am Vortag war sie mit ihrem Mann im Wald joggen – sie war topfit und hatte keinerlei Vorerkrankungen. Doch plötzlich sackt sie zu Hause auf den Boden. Sie hat keine Schmerzen, nur eine überwältigende Erschöpfung. Sie schläft ein.

„Mama, steh auf!“ Die Stimme ihres vierjährigen Sohnes hallt durch den Raum. Ohne ihn hätte sie einfach weitergeschlafen. Die Lehrerin vermutet eine Unterzuckerung, nichts Ernstes. Ihre Tochter stößt hinzu und versucht, sie hochzuziehen, doch es gelingt ihr nicht. Sie ruft ihre Oma an – Anne Hoffmanns Schwiegermutter – die zeitnah eintrifft. Als diese sie bittet, die Beine anzuheben, wird deutlich, dass etwas nicht stimmt. Das linke Bein fällt immer wieder herunter. Sie wählt die 112 – eine Entscheidung, die lebensrettend sein wird.

Wenn jede Minute zählt

Anne Hoffmann ist einer von vier Menschen, die im Durchschnitt in Luxemburg täglich einen Schlaganfall erleiden. Europaweit sind es 1,1 Millionen Menschen pro Jahr, 460.000 von ihnen sterben daran. Bei einem Schlaganfall erhalten die Nervenzellen aufgrund einer Störung der Blutversorgung zu wenig Sauerstoff und Nährstoffe. Mit jeder verstrichenen Minute sterben 1,9 Millionen Neuronen ab.

„Viele Menschen denken, sie können nachts keine Ambulanz rufen, und warten bis zum Morgengrauen. Das kann fatale Folgen haben“, betont Anne Hoffmann. Selbst Betroffene erkennen oft nicht, was mit ihnen geschieht. Deshalb ist es entscheidend, dass das Umfeld die Warnsignale kennt und richtig deutet.

Manchmal kündigt sich ein Schlaganfall durch kleinere Vorboten an, wie einen kurzzeitigen Verlust der Griffkraft oder des Sprachvermögens. Diese sogenannten transitorischen ischämischen Attacken dauern von wenigen Sekunden bis maximal 24 Stunden und können Vorboten eines größeren Schlaganfalls sein. Auch hier gilt: Sofort die 112 rufen.

Ein besorgniserregender Trend

Anne Hoffmann gehört zu einer wachsenden Gruppe: jungen Menschen, die einen Schlaganfall erlitten haben. Eine internationale Studie, die in der Zeitschrift Lancet Neurology veröffentlicht wurde, zeigt einen beunruhigenden Trend. Während die Zahl bei Menschen über 70 Jahren stagniert oder sogar abnimmt, steigt sie bei Unter-55-Jährigen deutlich an. Als Hauptrisikofaktor gilt weltweit Bluthochdruck, der mehr als die Hälfte aller Schlaganfälle verursacht. Zunehmend relevant werden auch Übergewicht, erhöhte Blutzuckerwerte und der Konsum zuckerhaltiger Getränke.

Bei der 39-Jährigen traf keiner der klassischen Risikofaktoren zu: Sie hatte weder Diabetes noch Bluthochdruck oder Vorhofflimmern, rauchte oder trank nicht übermäßig und war sportlich. Sie war kerngesund – und trotzdem traf es sie. Im Krankenhaus stellte sich heraus, dass sie einen ischämischen Schlaganfall erlitten hatte, der durch ein Blutgerinnsel verursacht worden war. Diese Art macht 80 bis 85 Prozent aller Schlaganfälle aus. Die seltenere Form, der hämorrhagische Schlaganfall, entsteht durch ein geplatztes Gehirngefäß – etwa infolge eines Unfalls – und kommt nur in 10 bis 15 Prozent der Fälle vor.

Botox für die Nerven

Es folgt eine Zeit voller Herausforderungen. Von einem Tag auf den anderen wird die Mutter zweier Kinder pflegebedürftig. Eine Halbseitenlähmung macht jede Bewegung unmöglich. Sie kann sich nicht drehen, waschen oder zur Toilette gehen. „Ich habe die Krankenpflegerin gebeten, mir die Haare zu schneiden, weil ich sie nicht mehr selbst bürsten konnte. Das war sehr hart für mich“, erinnert sie sich.

Besonders belastend empfindet sie die Intensivstation mit dem ständigen Piepen der Geräte und den regelmäßigen Blutdruck- und Blutzuckermessungen. Auf der neurologischen Station wird es ruhiger. Zwei Physiotherapeuten helfen ihr, erste Schritte zu wagen. „Sie haben mich aufgestellt, und dann wusste ich nicht mehr weiter. Ich hatte das Laufen verlernt, es war, als hätte jemand ein Programm gelöscht.“ Meter für Meter kämpft sie sich voran und ist nach jedem Versuch nassgeschwitzt.

Nach drei Wochen im Rehazentrum geht es nach Hause. Das Bett muss ins Erdgeschoss gestellt werden. Jeder Gang nach oben wird zur Tortur. Ihre Familie trägt sie durch diese Zeit – wie die meisten Angehörigen von Schlaganfallpatienten. Eine EU-weite Studie der Universität Oxford hat ergeben, dass sie durchschnittlich 1.000 Stunden pro Jahr für die Betreuung aufwenden.

Das Leben danach besteht aus Warten: auf Arztbesuche, auf Fortschritte, auf Antworten. Die Ungewissheit ist belastend. Welche Folgen bleiben dauerhaft? Wann kehrt ein Stück Normalität zurück? „Man vereinsamt schnell“, sagt Anne Hoffmann.

„Ich hatte das Laufen verlernt, es war, als hätte jemand ein Programm gelöscht.“ – Anne Hoffmann

Die Liste möglicher Folgeerscheinungen ist lang: Bis zu 85 Prozent der Betroffenen erleben eine Lähmung einer Körperhälfte, über 60 Prozent eine Gesichtslähmung, 40 bis 50 Prozent Schluckstörungen und 30 Prozent eine Aphasie. Dabei handelt es sich um eine Sprachstörung, die das Sprechen, Verstehen, Schreiben und Lesen betrifft. Häufig kommen zudem Sehstörungen, Blasenschwäche, extreme Erschöpfung, Verhaltensveränderungen, Depressionen und Angstzustände hinzu. Spontane Verbesserungen sind möglich, aber nicht immer kommt es auch dazu, da jeder Schlaganfall individuell verläuft.

Bei der Gymnasiallehrerin sind es schmerzhafte Muskelkontraktionen im linken Bein, sogenannte Spasmen, die bis heute bestehen. „Wenn ich meine Bauchmuskeln anspanne, verkrampft sich automatisch das gesamte Bein. Lange Zeit konnte ich nur auf Zehenspitzen laufen.“ Moderne Therapien helfen ihr, mit diesem Problem umzugehen: Regelmäßige Botox-Injektionen direkt ins Bein lassen die Muskeln entkrampfen, auch wenn die Wirkung einige Tage auf sich warten lässt.

Noch schneller wirkt die Kryoneurolyse, bei der durch Vereisung des Nervs die Kommunikation zum Muskel unterbrochen wird. „Der Muskel entspannt sich wieder“, erklärt sie. Allerdings muss der Eingriff wiederholt werden, da der Nerv zusammenwächst. Ein Gerät am Bein ermöglicht es ihr durch elektrische Stimulation, den Fuß beim Gehen anzuheben, sodass er nicht mehr über den Boden schleift.

Zurück ins Leben

Anne Hoffmann ist heute 44 Jahre alt und arbeitet nebenbei als Vorstandssekretärin bei der Blëtz a.s.b.l. Seit Anfang 2022 ist sie wieder als Gymnasiallehrerin tätig, zunächst mit einem Anteil von 25 Prozent, mittlerweile jedoch halbtags. „Ich hatte das Glück, dass die Direktion mich unterstützt hat. Unter meinen Bekannten im ähnlichen Alter, die einen Schlaganfall erlitten haben, kenne ich niemanden, der in den alten Beruf zurückgekehrt ist. Ein junges Alter garantiert leider keine bessere Erholung.“

Ihre Belastbarkeit ist deutlich gesunken und ihr Alltag ist von Erschöpfung geprägt. „Ich muss mir meine Ressourcen genau einteilen, sonst schaffe ich es nicht. Ich brauche gezielte Pausen und darf meine Grenzen nicht überschreiten, sonst bekomme ich starke Kopfschmerzen, als hätte ich zwei Flaschen Wein getrunken.“

Zum Schuljahresbeginn spricht sie offen mit ihren Klassen über das, was ihr passiert ist. „Ich erkläre, dass dies der Grund für meine Gehschwierigkeiten ist.“ Als sie 2022 mitten im Schuljahr wieder eingestiegen ist, hat sie anfangs eine angespannte Stimmung gespürt. Die Schülerinnen und Schüler wussten nicht, was los war. Nach dem offenen Gespräch herrschte spürbare Erleichterung.

Der Schlaganfall hat Anne Hoffmann verändert, aber nicht gebrochen. „Ich versuche, anders an die Dinge heranzugehen, mehr auf meine Bedürfnisse zu schauen und weniger darauf, was andere denken könnten. Ich meditiere, achte mehr auf meinen Atem – das wirkt beruhigend.“ Sie hat gelernt, mit der Situation zu leben. „Ich habe mich damit abgefunden. Ich frage mich nicht mehr: ‚Wieso ich?‘“

„Ich muss mir meine Ressourcen genau einteilen, sonst schaffe ich es nicht.“ – Anne Hoffmann

Für sie ist die ehrenamtliche Arbeit bei der Blëtz a.s.b.l und der Austausch mit anderen Betroffenen besonders hilfreich. „Es gibt so viele Menschen in ähnlichen Situationen. Der Austausch hat mir sehr geholfen, weil man sich verstanden fühlt und sich nicht mehr so allein fühlt.“

Am 29. Oktober, dem Weltschlaganfalltag, soll mehr Aufmerksamkeit auf dieses Thema gelenkt werden. „Viele Betroffene sieht man in der Öffentlichkeit nicht mehr. Sie leben zurückgezogen, sind nur noch zu Hause oder im Pflegeheim“, sagt die 44-Jährige. Deshalb ist Sichtbarkeit so wichtig.

Die zweifache Mutter hat mittlerweile ihren Weg gefunden, mit den bleibenden Einschränkungen zu leben, ohne sich von ihnen definieren zu lassen. „Die Probleme sind da, aber ich will nicht, dass sie mich einnehmen. Es gibt noch so viele andere wichtige Dinge im Leben.“

F.A.S.T.: Auf folgende Warnsignale sollten Sie achten

Face / Gesicht: Bitten Sie den Patienten zu lächeln. Ist das Lächeln asymmetrisch?

Arms / Arme: Bitten Sie den Patienten, beide Arme zu heben. Sinkt ein Arm nach unten?

Speech / Sprache: Ist die Sprache verwaschen oder ungewöhnlich?

Time / Zeit: Wenn Sie eines dieser Symptome erkennen, rufen Sie umgehend eine Ambulanz.

Für den Notdienst sind folgende Informationen wichtig: der genaue Zeitpunkt des Beginns der Symptome, Vorerkrankungen und die Medikamente, die die betroffene Person einnimmt. Achten Sie in der Zwischenzeit zudem darauf, dass die betroffene Person freie Atemwege hat und nichts zu essen oder trinken bekommt.

Ein schnelles Handeln ist wichtig, denn eine Behandlung ist nur möglich, wenn der Schlaganfall innerhalb der ersten sechs Stunden erkannt wird. Nach der Diagnose entscheiden Radiologe und Neurologe, ob der Schlaganfall durch eine intravenöse Thrombolyse (medikamentöse Auflösung des Gerinnsels) oder eine Thrombektomie (chirurgische Entfernung des Thrombus) behandelt werden soll.

Die Blëtz a.s.b.l.

Die 2013 gegründete a.s.b.l hat sich der Unterstützung von Schlaganfallbetroffenen, Kindern, Jugendlichen, Erwachsenen und ihren Familien in allen Stadien der Krankheit verschrieben. Zudem informiert sie die Öffentlichkeit über Hirnverletzungen und die sich daraus ergebenden Folgen und Bedürfnisse.

Ein weiterer Fokus liegt auf der Weiterentwicklung des nationalen Aktionsplans, um Herz-Kreislauf- und neurovaskuläre Erkrankungen wirksam zu bekämpfen. Diese sind nach wie vor die zweithäufigste Todesursache in Luxemburg. Das Team der gemeinnützigen Organisation besteht aus Betroffenen, ihren Familien und Freunden.

Der Verein bietet jeden Monat verschiedene Aktivitäten an, darunter therapeutische körperliche Aktivitäten, Beratungsgespräche und Workshops zum Thema Schlaganfall.

Artikel auf wort.lu lesen: https://www.wort.lu/panorama/gesundesleben/schlaganfall-mit-39-anne-hoffmanns-weg-zurueck-ins-leben/97270336.html

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