(von woxx-Journalistin Melanie Czarnik)
Schlaganfälle gelten als Krankheit des Alters – doch immer häufiger trifft es auch jüngere Menschen. Welche Risikofaktoren man kennen muss und warum jede Minute zählt, zeigt die Geschichte von Chantal Keller, Präsidentin des Hilfevereins Blëtz asbl.
Chantal Keller erschrickt, als ihr das Glas aus der Hand fällt. Plötzlich hat sie jegliches Gefühl in ihrem rechten Arm verloren. Doch so schnell, wie es gekommen ist, verschwindet das Symptom wieder. Die 47-jährige Frau ist mit ihrem Partner für ein paar Tage in Amsterdam im Urlaub und beschließt ihren Hausarzt aufzusuchen, sobald sie wieder zuhause sind. Schließlich ist sie zu jung für etwas Ernstes, wie einen Herzinfarkt oder einen Schlaganfall. Eine Fehleinschätzung, die ihr Leben in eine völlig neue Bahn leiten wird. Nur ein paar Stunden später trifft sie wortwörtlich der Schlag: Sie erleidet einen Schlaganfall. Von jetzt an zählt jede Minute.
„Zeit ist Hirn“, erklärt Chantal Keller, 18 Jahre später und zitiert damit einen Merksatz, den Neurolog*innen in Bezug auf Schlaganfälle gerne verwenden. Er bedeutet, dass nach einem Schlaganfall so schnell wie möglich eine ärztliche Behandlung erfolgen muss, um den Schaden am Gehirn bestmöglich zu minimieren. „Es ist eigentlich sehr seltsam, dass ich damals so gehandelt habe. Ich war ja ausgebildete Krankenpflegerin“, erzählt Keller. Als sie in Amsterdam das Glas fallen ließ, hatte sie keinen einfachen Schwächeanfall – sie erlebte damals eine transitorische ischämische Attacke (TIA), manchmal auch Mini-Schlaganfall genannt, ausgelöst durch einen unerkannten Herzinfarkt. Eine plötzliche, kurz andauernde neurologische Erkrankung, die durch eine kleine, vorübergehende Blockade in einem Blutgefäß im Gehirn verursacht wird. Sie ist eines der Vorzeichen eines bevorstehenden Schlaganfalls und sollte in jedem Fall ernst genommen werden. „Man kann nicht wissen, wie lange man noch Zeit hat“, erklärt Keller, „bei mir waren es ein paar Stunden. Es hätte aber auch sofort danach passieren können oder erst in ein paar Tagen.“
Neue Risikofaktoren
Es gibt zwei Arten von Schlaganfällen. Der ischämische Schlaganfall, der in 80 bis 85 Prozent der Fälle vorkommt, wird durch eine Blockade des Blutflusses zum Gehirn verursacht, zum Beispiel durch ein Blutgerinnsel. Der hämorrhagische Schlaganfall entsteht durch eine Blutung im Gehirn, etwa wenn ein Aneurysma platzt; er ist seltener, führt jedoch häufiger zum Tod. In beiden Fällen ist das Problem die Sauerstoffunterversorgung des Gehirns, das in Folge beginnt, abzusterben. Der Schlaganfall breitet sich von der Blutung oder der Blockade ausgehend aus und befällt die umliegenden Hirnbereiche, die Folge sind Lähmungserscheinungen, Sprachstörungen, Sehstörungen und so weiter, je nachdem welcher Bereich im Gehirn betroffen ist. Das besonders tückische eines Schlaganfalls: Er kann in jedem Alter zuschlagen. Obwohl er von vielen immer noch als Erkrankung des Alters wahrgenommen wird, zeigen verschiedene Studien aus den letzten Jahren, dass weltweit etwa 15 Prozent aller Schlaganfälle Menschen unter 55 Jahren treffen – mit steigender Tendenz. In einigen Regionen hat sich die Zahl der Schlaganfälle bei jüngeren Erwachsenen in den letzten Jahren dabei deutlich erhöht. Eine Studie aus Oxfordshire (England) etwa verzeichnete einen Anstieg um 67 Prozent innerhalb von nur 16 Jahren. Die Gründe dafür sind vielfältig: Neben genetischen Faktoren spielen zunehmend Bluthochdruck, Übergewicht, Stress, Bewegungsmangel, Diabetes aber auch Umweltbelastungen eine Rolle.
Seit 12 Jahren Präsidentin des Schlaganfall-Hilfevereins Blëtz: Chantal Keller. (Foto: Raymond Clement)
Besonders stark von einer Verjüngung der Patient*innen betroffen sind dabei Länder mit einem niedrigen oder mittleren SDI (Socio-demographic Index), der Einkommen, Bildungsniveau und Geburtenrate einer Region bemisst. So weisen Osteuropa, Asien und Afrika südlich der Sahara sehr hohe Belastungen auf. Hier ist die Zahl der Schlaganfälle in den vergangenen Jahrzehnten vor allem aufgrund modifizierbarer Risikofaktoren wie Bluthochdruck, Übergewicht und erhöhtem Cholesterin massiv gestiegen. Neuere Studien zeigen, dass auch Umweltfaktoren wie Luftverschmutzung, extreme Temperaturen und Bleibelastung eine immer größere Rolle spielen. Feinstaubbelastung trug dabei ähnlich stark zu der Erhöhung des Risikos auf einen hämorrhagischen Schlaganfall bei wie das Rauchen. Zudem wurde gezeigt, dass über 80 Prozent der Schlaganfälle auf beeinflussbare Faktoren zurückzuführen sind. „Angesichts der wechselseitigen Verbindungen zwischen Luftverschmutzung, Umgebungstemperatur und Klimawandel kann die Dringlichkeit von Klimaschutzmaßnahmen nicht überschätzt werden“, bringt es einer der Studienautoren auf den Punkt. Schlaganfallprävention ist auf globaler Ebene längst nicht mehr nur eine Frage individuellen Verhaltens, sondern auch ein Auftrag an Umwelt- und Klimapolitik.
Ein weiterer von Umwelt und Individualfaktoren unabhängiger Risikofaktor ist in den letzten Jahren dazugekommen. Eine Langzeitstudie des National Institutes of Health (NIH) ergab, dass eine Covid-19-Infektion das Risiko für Herzinfarkt und Schlaganfall bis zu drei Jahre nach Erkrankung deutlich erhöht, besonders bei schweren Verläufen. Auch eine US-amerikanische Fall-Kontroll-Studie aus New York City zeigte, dass Covid-19 das Risiko für einen akuten ischämischen Schlaganfall im Folgejahr deutlich erhöhte, und zwar unabhängig von anderen klassischen Risikofaktoren wie Bluthochdruck oder Diabetes. Infizierte hatten ein fast vierfach höheres Schlaganfallrisiko als nicht infizierte Personen. Die Expert*innen vermuten, dass eine überschießende Entzündungsreaktion und eine verstärkte Blutgerinnung durch das Virus die Blutgefäße schädigen. Auch genetische Faktoren könnten eine Rolle spielen: Menschen mit den Blutgruppen A, B oder AB waren laut den Forschenden besonders gefährdet. Angesichts der hohen weltweiten Infektionszahlen sehen Wissenschaftler*innen die Notwendigkeit, Infektionserkrankungen wie Covid-19 künftig als unabhängigen, zusätzlichen Risikofaktor für Herz-Kreislauf-Erkrankungen ernst zu nehmen.
Die Lage in Luxemburg
Obwohl Luxemburg, als Land mit hohem SDI, gegenüber anderen gut dasteht, erleiden auch hierzulande täglich etwa vier Menschen einen Schlaganfall. Da es kein nationales Schlaganfallregister gibt, basiert der Schlaganfallhilfeverein Blëtz diese Zahl auf Schätzungen, die aus Informationen der Krankenhäuser stammen. Dass die genauen Zahlen von Schlaganfällen und damit verbundenen Todesfällen hierzulande nicht verfolgt werden, ist nur einer der Kritikpunkte von Blëtz, der Verein den Chantal Keller zusammen mit anderen Betroffenen 2013, fünf Jahre nach ihrem eigenen Schlaganfall, gegründet hat. „Nach meinem Schlaganfall konnte ich nach einem Jahr ungefähr hundert Wörter sprechen. Alle Sprachen waren weg und es gab niemanden, der verstand, warum ich nicht sprechen konnte“, erzählt sie. Da es in Luxemburg damals zwar eine Krankenhausversorgung, aber darüber hinaus kein unterstützendes Netzwerk gab, beschloss sie eines zu gründen. Betroffene und ihre Angehörigen benötigen auch weit nach dem Ereignis selbst, eine intensive Förderung. Das gilt sowohl auf körperliche als auch auf psychosozialer Ebene.
Lebensgewohnheiten, Arbeitsfähigkeit, Beziehungsdynamiken: Ein Schlaganfall ist ein Ereignis, der von einen Moment auf den anderen alles ändert. Neben monatlichen Treffen, zu Sport und anderen Aktivitäten, bietet Blëtz deshalb auch zehn neuropsychologische Sitzungen an, fünf für Betroffene und fünf für ihre Angehörigen, die oftmals auch unbezahlte Care-Arbeit leisten. Sitzungen also, die Nach- und Vorsorgeleistung zugleich darstellen und trotzdem nicht von der CNS getragen wird. „120 bis 150 Euro pro Sitzung sind viel Geld, gerade für Menschen mit Frühpension oder Erwerbsunfähigkeit“ sagt Keller. Der Verein finanziert sein Angebot über Spenden und eine Bezuschussung vom Gesundheitsministerium.
Dass auch hier immer mehr Menschen unter 55 Jahren betroffen sind, sieht Keller in ihrer täglichen Arbeit. „Das ist das große Missverständnis: Viele denken, ein Schlaganfall betrifft nur alte Menschen. Das stimmt aber nicht.“ Unabhängig von der globalen Entwicklung der Verjüngung von Patient*innen, gab und gibt es auch Kinder und Jugendliche, die betroffen sind, in Luxemburg geht Blëtz von sieben bis zehn Betroffenen pro Jahr in dieser Altersgruppe aus, selbst wenn keine Risikofaktoren oder Vorerkrankungen vorliegen. Auch die Geschlechtszugehörigkeit hat Auswirkungen auf das Schlaganfallrisiko. Anders als bei Männern, gibt es bei Frauen verschiedene Lebensphasen in denen sie, hormonell bedingt, ein höheres Risiko laufen, einen Schlaganfall zu erleiden. Dazu gehört zum Beispiel die Phase kurz vor und während der Menopause, aber auch während der Schwangerschaft und Stillzeit. Verschiedene Medikamente, wie die Antibabypille, erhöhen das Risiko. Es ist wichtig, gerade in diesen Phasen andere negative Faktoren, wie Rauchen, Alkoholkonsum und ungesunde Ernährung zu vermeiden, da diese zu Bluthochdruck führen. Einer der Hauptfaktoren für Schlaganfall und Herzinfarkt und zum Glück auch ein Biomarker, der sich schnell und einfach zuhause messen lässt sowie medikamentös gut zu behandeln ist. Probleme tauchen dann auf, wenn Menschen auf eigene Faust Medikamente absetzen, zum Beispiel wegen auftretenden Nebenwirkungen. „Leider erleben wir das immer wieder – und es kann tödliche Folgen haben“, sagt Keller.
Im Gespräch wird klar, dass die Gründung des Schlaganfall-Hilfevereins für Chantal Keller etwas war, das ihrem Leben einen neuen Sinn und eine komplett neue Richtung gegeben hat. Sie hat für andere geschaffen, was ihr damals gefehlt hat. Ein Engagement, das ihr im Januar die Ehrung zur Luxemburgerin des Jahres eingebracht hat. Trotz, oder vielleicht gerade wegen allem, was sie selbst erlebt hat und im Kontakt mit anderen Betroffenen weiterhin erfährt, schöpft sie Kraft aus der Erkenntnis, wozu der menschliche Körper fähig ist: „Das Gehirn ist wirklich faszinierend: Es kann neue Aufgaben übernehmen, die vorher nicht möglich waren. Das ist unglaublich. Das Gehirn ist perfekt.“
Schlaganfall erkennen und handeln
Ein Schlaganfall ist lebensbedrohlich und jede Minute zählt. Die FAST-Methode hilft dabei, Warnzeichen schnell zu erkennen: Face (Gesicht): Lächelt eine Gesichtshälfte nicht? Arms (Arme): Kann die betroffene Person beide Arme heben? Speech (Sprache): Ist die Sprache verwaschen oder unverständlich? Time (Zeit): Zeit ist Hirn! Bei einem oder mehreren Symptomen sofort den Notruf 112 wählen, selbst wenn die Symptome plötzlich wieder verschwinden. Es kann sich um den Vorboten TIA handeln. Auch Kinder können einen Schlaganfall erleiden. Warnzeichen sind plötzliche Lähmungen, Sprach- oder Schluckstörungen, ungeklärte epileptische Anfälle, auffällige Verhaltensänderungen oder starke Kopfschmerzen. Bei Verdacht ebenfalls sofort den Notruf 112 wählen.
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